Analyse: Ein Autogigant tritt ab

Volkswagen ohne Winterkorn - das war bisher unvorstellbar. Bis zum Ausbruch der nicht nur in Deutschland wohl beispiellosen Unternehmenskrise galt seine Vertragsverlängerung durch den VW-Aufsichtsrat am Freitag als reine Formalie. Foto: Jochen Lübke/Archi
Volkswagen ohne Winterkorn - das war bisher unvorstellbar. Bis zum Ausbruch der nicht nur in Deutschland wohl beispiellosen Unternehmenskrise galt seine Vertragsverlängerung durch den VW-Aufsichtsrat am Freitag als reine Formalie. Foto: Jochen Lübke/Archi

Die Ära Martin Winterkorn bei Volkswagen ist vorbei. «Volkswagen braucht einen Neuanfang - auch personell. Mit meinem Rücktritt mache ich den Weg dafür frei», lässt sich der 68-Jährige pünktlich zum Börsenschluss in Frankfurt von der Kommunikationsabteilung des Wolfsburger Autobauers zitieren. Damit erreicht die Abgas-Krise nicht nur einen Höhepunkt. Zugleich endet um Punkt 17.00 Uhr die achtjährige Amtszeit des Managers an der VW-Spitze, die bislang nur eine Richtung kannte: steil bergauf. Ruhe tritt deshalb rund um die Zentrale des Weltkonzerns aber nicht ein.

Für die Aufsichtsratssitzung am Freitag kündigte das mächtige Präsidium Vorschläge für die Nachfolge an. «Um irgendwelchen Spekulationen vorzubeugen oder vorzugreifen, möchte ich festhalten, dass Vorschläge zur personellen Neubesetzung erst am Freitag in dieser Woche im Aufsichtsrat beraten werden», sagt Berthold Huber, der Interims-Präsidiumschef, mit aufgekratzter Stimme. Danach werde die Öffentlichkeit über die «Gedanken und Überlegungen» informiert.


Hubers Wunsch dürfte aber kaum Gehör in den Medien finden. Seit Tagen kursieren Kandidaten fürs Erbe des bisher bestbezahlten Dax-Managers in den Nachrichten. Namen wie Audi-Chef Rupert Stadler, VW-Markenchef Herbert Diess und Lkw-Chef Andreas Renschler machen die Runde. Auch Porsche-Chef Matthias Müller werden von Insidern Chancen eingeräumt. Letzterer war Wunschkandidat des längst geschassten VW-Patriarchen Ferdinand Piëch, der Winterkorn ersetzt sehen wollte.


Dessen unrühmliches Karriereende hatte sich nicht erst an diesem Mittwoch angedeutet. Nach seiner öffentlichen Entschuldigung am Dienstag per Videobotschaft waren Schulterklopfer oder demonstrative Rückendeckungen aus dem fünfköpfigen Präsidium ebenso Fehlanzeige wie von anderen einflussreichen Personen. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur hatte Winterkorn in der Präsidiumssitzung bis zuletzt um seinen Chefsessel gekämpft. Doch für den «glaubhaften Neuanfang», wie Huber es nennt, muss er nun seinen Platz räumen.


Daran ändert selbst die geäußerte Unschuldsvermutung für den Schwaben nichts. «Wir wollen dabei ausdrücklich festhalten, dass Herr Dr. Winterkorn keine Kenntnis hatte von der Manipulation von Abgaswerten», betont Huber. Insider erklären, dass er es als oberster Chef der Entwicklungsabteilung hätte wissen müssen.


151 Tage nach dem spektakulären Rücktritt von Ex-VW-Patriarch Piëch ist nun auch Winterkorn als Verlierer aus einer schweren Krise in die Volkswagen-Historie eingegangen. Anders als im hektischen Frühjahr hatte der VW-Chef diesmal aber zu keinem Zeitpunkt einen öffentlichen Unterstützer. Und anders als bei Piëch ist das Präsidium glaubhaft bemüht, Winterkorns Rauswurf mit lobenden Worten zu erleichtern.


«Seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen in dieser schwierigen Situation für Volkswagen und damit ein deutliches Signal zu setzen, haben wir mit größter Hochachtung zur Kenntnis genommen», sagt Huber und verweist auf die herausragende Leistung. Auch Niedersachsens Ministerpräsident und VW-Aufseher Stephan Weil ist dies wichtig: Unter Winterkorn sei VW zum Weltkonzern aufgestiegen.


Der mächtige Mann wandte sich isoliert und hilflos per Videobotschaft an die Öffentlichkeit und seine rund 600 000 Mitarbeiter. «Auch deshalb bitten wir, bitte ich, um Ihr Vertrauen auf unserem weiteren Weg», hatte er am Dienstag mit holpriger Stimme gesagt. Im Rückblick scheint seine Körpersprache schon zu diesem Zeitpunkt verraten zu haben, dass er selbst nicht an diese Chance glaubt.


Damit muss die von Winterkorn noch vor einer Woche in Frankfurt bei der IAA-Eröffnung angekündigte «Neu-Erfindung» von Volkswagen ohne ihn stattfinden. Konzern-Insider fürchten zudem, dass das Unternehmen auch ohne den mächtigen Alleinherrscher nicht ohne weiteres seine Schockstarre im akuten Krisenmanagement überwinden wird. Dazu sei die Machtarithmetik in Wolfsburg zu schwerfällig.


Das Präsidium will dies aber nach Kräften verhindern - und gibt sich kämpferisch. Weil kündigt an, das Unternehmen werde nun selbst Strafanzeige gegen die unbekannten Verantwortlichen der manipulierten Abgasmessungen erstatten. Ein symbolischer Akt - mehr ist dies sicher zunächst nicht. Denn die Justiz hat längst die Fährte aufgenommen, in den USA wie in Deutschland befassen sich Staatsanwälte mit dem elfmillionenfachen Tricksen durch findige Software-Programmierungen.


Volkswagen ohne Winterkorn - das war bisher unvorstellbar. Bis zum Ausbruch der nicht nur in Deutschland wohl beispiellosen Unternehmenskrise galt seine Vertragsverlängerung durch den VW-Aufsichtsrat am Freitag als reine Formalie. Doch die manipulierten Abgastests in den USA haben nicht nur den Aktienkurs zwischenzeitlich in freien Fall, sondern auch das oberste Kontrollgremium in den Krisenmodus versetzt. Der bisherige Vorzeigekonzern verliert an Glaubwürdigkeit und Börsenwert. Das Symbol deutscher Wertarbeit erleidet schweren Schaden - hinter allen hehren Planspielen einer renditestärkeren Neuausrichtung steht ein Fragezeichen.


Hinzu kommen Unwägbarkeiten durch die Weiterungen. Der Analyst Jose Asumendi von der US-Bank JPMorgan sieht im schlimmsten Fall ein Schadenvolumen von 40 Milliarden Euro auf VW zukommen. Das durch Deutschlands größten Industriekonzern ausgelöste Beben erschüttert längst auch das politische Berlin. Noch völlig unklar ist auch, wie bedrohlich das Debakel für die 600 000 Arbeitsplätze der VW-Gruppe ist. Ganz abgesehen vom Ruf-Schaden für die Marke «Made in Germany». Kernwerte der deutschen Exportindustrie stehen auf dem Spiel.


Carsten Brzeski, Chefökonom der ING-Diba-Bank, sieht bereits Schatten auf der Konjunktur: «Während Deutschlands Wirtschaft Griechenland, der Euro-Krise und der chinesischen Konjunkturflaute widerstand, könnte sie jetzt dem größten Absturzrisiko seit langem entgegensehen. Die Ironie dabei ist, dass die Bedrohung nun eher von innen als von außen kommt.» Großaktionär Wolfgang Porsche ist ebenfalls schon zu lange im Geschäft, um zu glauben, dass das «#Dieselgate» damit beendet ist: «Den Mitgliedern des Präsidiums ist bewusst, dass es sich bei der Bewältigung um eine längere Aufgabe handelt.» (DPA)