G8/G9-Debatte rückt Gymnasium in Fokus: vernachlässigte Schulart?

Elternbeirat: Die Qualität des Unterrichts kommt zu kurz. Foto: A. Weigel/Archiv
Elternbeirat: Die Qualität des Unterrichts kommt zu kurz. Foto: A. Weigel/Archiv

In der Debatte über den acht- oder neunjährigen Weg zum Abitur kommt aus Sicht des Landeselternbeirates (LEB) die viel wichtigere Frage nach der Unterrichtsqualität zu kurz. «Das Gymnasium ist eine vergessene Schulart - trotz erheblicher Defizite», sagte Verbandschef Carsten Rees der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf das Abschneiden Baden-Württembergs etwa in der IQB-Studie. Laut dem Schulleistungs-vergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) sind die baden-württembergischen Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften nur Mittelmaß. 

«Die Sicherung der Qualität des Gymnasiums steht auf der Prioritätenliste ganz oben», konterte Kultusminister Andreas Stoch (SPD) am Mittwoch. Von einer Vernachlässigung bestimmter Schularten könne keine Rede sein.


Das Ministerium sei in intensiven Gesprächen, wie den Gymnasien noch besser ermöglicht werden könne, sich gut auf die pädagogischen Herausforderungen einzustellen. Auch über zusätzliche Ressourcen werde nachgedacht. Grün-Rot habe bereits die Zahl der Poolstunden zur individuellen Förderung erhöht. Die Ideen des Arbeitskreises «Gymnasium 2020» würden derzeit im politischen Raum diskutiert und bewertet.


Rees hingegen monierte, dass die Empfehlungen der Arbeitsgruppe seit einem Jahr in der Schublade schlummerten und wie eine geheime Verschlusssache behandelt würden. «Grün-Rot macht das allgemeinbildende Gymnasium nicht attraktiver aus Angst, dass Schüler von beruflichen Gymnasien und Gemeinschaftsschulen abgezogen werden», sagte der Elternvertreter aus Freiburg. Das Gymnasium müsse dringend pädagogisch weiterentwickelt werden. Dann werde sich auch die von den G8-Schülern empfundene Belastung automatisch verringern, die eine Studie des Tübinger Bildungsforschers Ulrich Trautwein jüngst festgestellt hatte. Zustimmung erhielt Rees von der FDP: Der Minister solle von «dieser Politik der Nadelstiche und der Vernachlässigung von erfolgreichen Schularten wie dem Gymnasium» abrücken.


Der Landeschef des Gymnasiallehrerverbandes, Bernd Saur, sagte, das «Geheimpapier» im Ministerium ziele darauf ab, das Niveau abzuschwächen. Grund: Schüler von Gemeinschafts- und Realschule sollten leichter auf das allgemeinbildende Gymnasium wechseln können. So sei vorgesehen, dass vierte schriftliche Abi-Prüfungsfach abzuschaffen und die Wahl des vierten Hauptfachs ganz freizugeben. Dass Gymnasiasten die zweite Fremdsprache laut den Vorschlägen nach Klasse neun abwählen können sollen, ist Saur ein Dorn im Auge: «Vier Jahre sind für eine Fremdsprache zu wenig.»


Zwar funktioniere G8 gut, aber es müsse erlaubt sein, nach einem möglichen Mehrwert eines zusätzlichen Jahres zu fragen. Der Bildungsforscher habe eben nicht Kompetenzen wie Reife, Solidität und nachhaltiges Wissen abgefragt, monierte Saur. «Die elfte Klasse wird schmerzlich vermisst.» Das Argument, die Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 sei zu teuer, will Saur nicht akzeptieren. «Für das Lieblingskind von Grün-Rot, die Gemeinschaftsschule, ist nichts zu teuer.» Stoch hatte kürzlich ausgeschlossen, mehr als die 44 G9-Schulversuche zuzulassen.


Wo die Eltern eine Option neben G8 hätten, würden sie sich zu 90 Prozent für den neunjährigen Weg zum Abitur entscheiden. Die grün-rote Politik des Gehörtwerdens müsse auch für die Eltern gelten, verlangte Saur. Auch die ursprüngliche Begründung für G8, dass die deutschen Jugendlichen zu spät aus der Schule ausscheiden, entspreche nicht mehr der Realität. Saur: «Mit fünfeinhalb Jahren in die Schule, mit 17 Abitur, mit 22 Magister und dann bis 70 arbeiten - ist G8 noch zeitgemäß?» Seinen eigenen Kindern biete Stoch über die Waldorfschule doch auch den längeren Weg zur Hochschulreife.


Einen kritischen Punkt von G8 sieht Rees im Übergang von der Mittel- in die Oberstufe. Um einen Leistungsabfall zu verhindern, müsse das zehnte Schuljahr der Oberstufe zugeschlagen werden. Vertiefungsstunden und Binnendifferenzierung in den Kernfächern sollten die Schüler fit für die Oberstufe machen. «Es muss eine Eingangsklasse in die Oberstufe sein, die alle Schüler mitnimmt.» Zudem müssten die achtjährigen Gymnasien mit ihrem häufigen Nachmittagsunterricht zu echten Ganztagsschulen ausgebaut werden. Bislang sind nur eine Handvoll der landesweit 400 Gymnasien im Ganztagsbetrieb mit rhythmisierten Unterricht und Mittagstisch. Auch die Grünen im Landtag forderten mehr Ganztagsangebote.


Der LEB favorisiert ein «Abitur im eigenen Takt»: Ein flexibles Kurssystem ermöglicht einen Abschluss nach zwei oder drei Jahren. Wenigstens als Schulversuch soll dies ausprobiert werden, forderte Rees. Dafür müsse das Land aber eine Genehmigung bei der Kultusministerkonferenz beantragen. Dies sei aber noch nicht geschehen. Nach Angaben des Firstwald Gymnasiums in Mössingen liegen mindestens Minister Stoch drei Anträge vor, darunter der eigene. (DPA/LSW)