«Ja»-Stimmen der Deutschtürken entfachen Integrationsdebatte

Türkisches Wahllokal in Dortmund: Die Wahlbeteiligung unter den türkischen Wählern in Deutschland lag fast 40 Prozentpunkte niedriger, als in der Türkei. Foto: Ina Fassbender
Türkisches Wahllokal in Dortmund: Die Wahlbeteiligung unter den türkischen Wählern in Deutschland lag fast 40 Prozentpunkte niedriger, als in der Türkei. Foto: Ina Fassbender

Wegen der starken Unterstützung vieler Deutschtürken für das Verfassungsreferendum in der Türkei warnen Politiker vor Integrationsproblemen.

«Die jetzige Situation ist auch eine Belastung des Integrationsprozesses hier in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen», sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) der Deutschen Presse-Agentur. Sie warnte vor einer Spaltung der türkischen Gemeinde in Deutschland. «Es ist jetzt mehr denn je Besonnenheit gefragt.»

 

Grünen-Chef Cem Özdemir sieht die in Deutschland lebenden Türken aus dem «Ja»-Lager in Erklärungsnot. «Ein Teil der Deutschtürken muss sich kritische Fragen gefallen lassen», sagte er im ARD-«Morgenmagazin». Sie genössen in Deutschland die Vorteile der Demokratie, richteten in der Türkei aber eine Diktatur ein. «Wir müssen über Versäumnisse der Integrationspolitik reden», sagte der Schwabe mit türkischen Wurzeln.

 

Die Deutschtürken haben aus Sicht des Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, auch aus Protest das Präsidialsystem Erdogans unterstützt. «Sie wollten dadurch Protest zum Ausdruck bringen gegen das, was sie seit Jahrzehnten aus ihrer Sicht hier empfinden», sagte Sofuoglu dem Südwestrundfunk. «Dass sie sich diskriminiert fühlen, dass sie sich ausgegrenzt fühlen, hat, denke ich, zu der ganzen Diskussion vor dem Referendum und den Spannungen zwischen Europa und der Türkei geführt.» Erdogan habe das sehr polemisch aufgegriffen und Europa und Deutschland als Feindbild genommen. Bei der Integration von Türken in Deutschland müsse «auf jeden Fall einiges nachgebessert werden», sagte Sofuoglu.

 

Eine knappe Mehrheit - 51,4 Prozent - der türkischen Wähler hatte bei dem Referendum am Sonntag für eine Verfassungsreform gestimmt. In Deutschland konnte Erdogan für sein Präsidialsystem sogar fast eine Zweidrittelmehrheit hinter sich vereinen - 63,1 Prozent. Das neue Präsidialsystem verleiht dem Staatsoberhaupt deutlich mehr Macht. Die Opposition, die eine Ein-Mann-Herrschaft des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan befürchtet, fordert wegen Unregelmäßigkeiten eine Annullierung der Abstimmung.

 

Das mehrheitliche Votum der in Deutschland lebenden Türken kann indes nach Einschätzung des Wahlforschers Joachim Schulte nicht als Beleg für eine gescheiterte Integration gewertet werden. Unter dem Strich habe nur ein kleiner Teil tatsächlich «Ja» gesagt, sagte der Geschäftsführer des deutsch-türkischen Meinungsforschungsinstituts Data 4U. Nur die Hälfte der Wahlberechtigten habe abgestimmt. «Das Ergebnis gibt aber einen Hinweis, in welche Richtung einige Deutschtürken denken», sagte Schulte. «Sie haben die engste Verbindung in die alte Heimat, nutzen am meisten Medien aus der Heimat, beteiligen sich stärker an Wahlen dort, sind am stärksten ihrer Muttersprache verbunden.»

 

Nach seinem umstrittenen Sieg hatte Staatschef Erdogan seine Bereitschaft bekräftigt, die Todesstrafe wieder einzuführen. Sollte das Parlament die entsprechende Verfassungsänderung mit der nötigen Zweidrittelmehrheit bestätigen, werde er das Gesetz unterzeichnen. «Aber wenn nicht, dann machen wir auch dafür ein Referendum.» An einem solchen Referendum dürften sich nach türkischem Recht auch wieder wahlberechtigte Türken im Ausland beteiligen.

Die Bundesregierung darf eine solche Abstimmung aus Sicht des Grünen-Abgeordneten Özcan Mutlu nicht erlauben. «Die Durchführung eines solchen Referendums ist eine rote Linie und kommt einem Ende der EU-Beitrittsgespräche gleich», sagte Mutlu. «Ein Referendum zur Einführung der Todesstrafe widerspricht unseren Werten diametral und darf in Deutschland nicht zugelassen werden.» (DPA)