Castorf über «Faust»: «Aus der Zerstörung wächst was Neues»

Der Theaterregisseur Frank Castorf. Foto: Bernd Weißbrod
Der Theaterregisseur Frank Castorf. Foto: Bernd Weißbrod

Stuttgart (dpa) – Der Kultregisseur Frank Castorf (65) widmet sich in dieser Spielzeit gleich zweimal dem Faust-Stoff: einmal mit Goethes Werk zum Abschied als Intendant der Volksbühne Berlin und bereits an diesem Sonntag (30. Oktober) in Stuttgart mit der Oper von Charles Gounod. Der unlängst zum Opernhaus des Jahres gekürte Musentempel startet mit der Castorf-Premiere in die neue Spielzeit. Frage: Zweimal Faust in einer Spielzeit. Werden Sie Ihrem Ruf als Stücke-Zertrümmer gerecht?

 

Antwort: Die Frage ist ja immer, was daraus entsteht, wenn etwas zerstört ist: Bleibt es so liegen? Oder entsteht etwas Neues? Das ist ein sehr dynamischer Prozess, etwas Lebendiges. So ist es auch bei dem «Faust» von Goethe, den man eigentlich nicht spielen kann. 16 000 Verse, das ist nicht zu fassen. Da ist die berühmte Wette zwischen Hölle und Himmel. Wie die Wette ausgeht, ist auch bei Goethe offen. In Gounods Oper ist Mephisto ein Lifestyle-Ermöglicher. Der fragt nicht, der kommt. Der andere, Faust, ist ein Flaneur. Es ist eine simple Geschichte.

 

Frage: Welche Parallelen entstehen da zum Jetzt und Heute?

 

Antwort: Der Begriff der Demokratie wird fast inflationär gebraucht. Denjenigen, die Geld haben, die den Genuss organisieren, geht es darum, dass sie ihr Leben leben wollen. Ihre Moral ist immer etwas Doppeldeutiges. Sie ist ein Spiegelbild der Verlogenheit. Die Oper spielt in Paris, wo sich die Halbwelt mit der Welt mischt. Dazu gehört, das Leben im Genuss zu vernichten. Mode und Geltung sind wichtig – und die junge Frau an seiner Seite. Es geht um die Sucht der Triebbefriedigung. Darum geht es Faust. Ihn interessiert nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der wird nie sagen zum Augenblick: Verweile doch Du bist so schön. Wenn er diesen einen genossen hat, dann will er den nächsten Augenblick haben.

 

Frage: Und die Frau, Margarethe?

 

Antwort: Sie ist wie eine Halbweltdame, eine Frau mit Vergangenheit. Sie wird bekennen, dass sie ihn geliebt hat – und der Mann wird die Hände die Hostentaschen stecken und weiter flanieren zum nächsten Abend. Der Teufel ist da längst weg. Jeder von uns braucht so einen Teufel. Es geht nicht mehr um Bildung, Theater – es geht um Lifestyle. Luxus und Mode sind wie Suchtmittel. Keiner will darauf verzichten - mich eingeschlossen. Es ist ein extremer Individualismus.

Frage: Was wird aus dem Individualisten Castorf - in Berlin verabschieden Sie sich auch mit «Faust». Wie geht es dann nach einem Vierteljahrhundert an der Volksbühne weiter?

 

Antwort: Ein Vierteljahrhundert ist – wie für Faust – nichts. Ich arbeite weiter. Es hat aber natürlich einen Nachteil, einen Produktionsbetrieb, in dem man nach eigenen Interessen und noch völlig frei arbeiten kann, zu verlieren. Das Produktionsmittel nicht mehr in der Hand zu haben, ist was Neues für mich. Dann ist man wieder auf Wanderschaft, ist wieder Handelsvertreter.


Alles muss sich verändern, um weiter zu leben. Die Volksbühne, die eine lange Tradition mit mir, mit Erwin Piscator, Max Reinhardt, Benno Besson und mit Heiner Müller hat, wird zerstört werden, ganz einfach. Aus der Zerstörung wächst was Neues. Und dann werden wir sehen, was daraus entsteht.

 

ZUR PERSON: Der am 17. Juli 1951 als Sohn eines Eisenwarenhändlers in Ost-Berlin geborene Castorf machte als Außenseiter in der DDR-Theaterprovinz früh auf sich aufmerksam. Nach einem Studium der Theaterwissenschaften ging er zunächst als Dramaturg zum Theater der Bergarbeiter in Senftenberg. Seit 1989 inszenierte Castorf auch in Westdeutschland. 1992 wurde er Intendant der Berliner Volksbühne. Am 7. November erhält für sein Lebenswerk den Nestroy-Preis. Der Wiener Bühnenverein würdigt Castorf als Theatermachter, der «wie ein Tropensturm so manche festgefahrenen Strukturen auf der Bühne» durcheinandergewirbelt. (DPA)