Forscher geben Startschuss zum Wiegen von Geisterteilchen

Mit einem Druck auf den roten Knopf im provisorischen Kontrollraum feuern am Projekt beteiligten Kollegen die ersten Elektronen ab. Foto: Uwe Anspach
Mit einem Druck auf den roten Knopf im provisorischen Kontrollraum feuern am Projekt beteiligten Kollegen die ersten Elektronen ab. Foto: Uwe Anspach

Tausende Milliarden von ihnen durchströmen uns jede Sekunde. Neutrinos - auch Geisterteilchen genannt - sind ebenso zahlreich wie schwer fassbar. Lange glaubten Forscher, dass die Teilchen gar keine Masse haben. Physiker, die dafür im vergangenen Jahr den Nobelpreis bekommen haben, deckten das als Irrtum auf. Nun wird sogar die Masse der Neutrinos gewogen - in Karlsruhe. Am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) wollen Forscher herausfinden, was die Teilchen wiegen.

Denn könnte man deren Masse bestimmen, ließen sich daraus Rückschlüsse auf die Entstehungsgeschichte des Universums ziehen. Im Sommer vorvergangenen Jahres wurde der gigantische Versuchsaufbau des 60 Millionen Euro teuren «Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment» (Katrin) abgeschlossen. Am Freitag ging die Apparatur nach 15 Jahren Vorbereitung in Betrieb.

 

Die Neutrino-Waage, die etwa 200 Wissenschaftler aus zahlreichen Staaten gemeinsam konstruiert haben, hat gewaltige Ausmaße. 200 Tonnen wiegt allein der Vakuumtank des Hauptspektrometers, mit dem die Forscher auf die Jagd nach Neutrinos gehen wollen. Mit seinen 24 Metern Länge, 10 Metern Durchmesser und 800 Quadratmetern Innenfläche beherbergt er einen riesigen luftleeren Raum.

 

Weil die Neutrinos nicht geladen sind, lassen sie sich nur sehr schwer aufspüren. Also greifen die Forscher zu einem Trick: Durch die insgesamt 70 Meter lange Anlage lassen sie Elektronen rasen. Indem sie deren Bewegungsenergie messen, können die Wissenschaftler dank der von Einstein entdeckten Äquivalenz von Masse und Energie indirekt die Masse der Neutrinos feststellen.

 

Mit einem Druck auf den roten Knopf im provisorischen Kontrollraum feuert Projektleiter Guido Drexlin zusammen mit mehreren am Projekt beteiligten Kollegen die ersten Elektronen ab. Ein Zischen, einige Augenblicke bangen Wartens, dann werden auf einem der Monitore einige helle Punkte sichtbar. «First light» nennen die Wissenschaftler das Ereignis, wenn der Detektor zum ersten Mal Elektronen «sieht». Ein wichtiger Schritt in Richtung des endgültigen Messbetriebs, der im Herbst 2017 beginnen soll.

 

Ernst-Wilhelm Otten, der an der Universität Mainz das Vorgängerexperiment durchgeführt und somit den Grundstein für die jetzigen Forschungen gelegt hat, verweist auf die Internationalität des Projekts. Beteiligt seien auch Forscher aus Moskau und dem amerikanischen Seattle.

 

Besonders interessieren sich die Geisterteilchenjäger für jene Neutrinos, die durch den Urknall vor mehr als 13 Milliarden Jahren erzeugt wurden. Etwa 300 davon gebe es in jedem Kubikzentimeter des Universums, sagt Katrin-Physiker Hendrik Seitz-Moskaliuk. Im gesamten All käme wohl eine enorme Masse zusammen, sagt er. Zu wissen, wie groß die Masse eines einzelnen Neutrinos ist, könnte also helfen, die großen Fragen der Astronomie zu beantworten. Wie entstand alles aus dem scheinbaren Nichts? Was geschah nach dem Urknall? Wie entwickelte sich der Kosmos in seiner heutigen Form?

 

Fünf Jahre lang werden er und seine Kollegen Elektronen durch ihren riesigen Supertank sausen lassen. Aus bisherigen ähnlich aufgebauten Experimenten ist lediglich bekannt, dass die Neutrinomasse kleiner als zwei Elektronenvolt pro dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit ist. Die Waage misst zehnmal genauer. Dazu mussten die Forscher aber einen 100-mal so großen Vakuumtank wie bei vergleichbaren Versuchsaufbauten konstruieren. Technisch ist das das Ende der Fahnenstange, glaubt Seitz-Moskaliuk. «Wenn wir die Neutrinomasse damit nicht messen können, müssen neue Ideen her.» (DPA)