Analyse: Rolle rückwärts in der Flüchtlingspolitik

Sie wusste nichts von der Wiedereinführung der Dublin-Regeln: Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maiziere im Gespräch. Foto: Wolfgang Kumm
Sie wusste nichts von der Wiedereinführung der Dublin-Regeln: Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maiziere im Gespräch. Foto: Wolfgang Kumm

Wie sehr hatten syrische Flüchtlinge und Unterstützer gejubelt. «Danke Deutschland», schrieb ein Ribal Kousa über den Kurzmitteilungsdienst Twitter an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), «Du rettest syrische Leben». Die Behörde hatte am 25. August getwittert, dass es das sogenannte Dublin-Verfahren für Syrer ausgesetzt hat. Damit mussten diese nicht mehr befürchten, in das Land zurückgeschickt zu werden, in dem sie zuerst EU-Boden betreten hatten.

Zwei Tage später erklärte auch die Kanzlerin, das Dublin-Verfahren funktioniere nicht: «Wir dürfen nicht die Bürokratie Triumphe feiern lassen.» Angela Merkel wurde für syrische Flüchtlinge zum rettenden Anker in höchster Not und bekam Liebesbotschaften via Internet: «Mitfühlende Mutter» und «Wir lieben dich».


Nun gilt das Dublin-Verfahren wieder. Ganz still kassierte das BAMF seine großzügige Regelung am 21. Oktober wieder ein - was erst am 10. November durch Medien-Recherchen bekannt wurde. Auch Merkel und ihr Kanzleramtschef Peter Altmaier (beide CDU) wussten nach Angaben der Vize-Regierungssprecherin Christiane Wirtz nichts davon.


Aber sie hätten darüber auch nicht informiert werden müssen, weil die Entscheidung in der Verantwortung des Innenministeriums von Thomas de Maizière (CDU) liege und «keine große politische Sensation» sei, betont Wirtz in Berlin. Die Rückkehr zu Dublin sei auch kein Kurswechsel, die «Willkommenskultur» der vergangenen Monate bestehe fort. Die Regierung führe wieder europäisches Recht aus.


Fragt sich, wie man die Rolle rückwärts nun nennen soll. Nach Merkels offenherziger Geste im August und unmissverständlicher Berufung auf das Grundgesetz, das keine Obergrenze für die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten vorsieht, verschärfte die große Koalition die Asylgesetzgebung drastisch.


Vermutlich hatte auch Merkel nicht damit gerechnet, dass Hunderttausende Menschen nur noch nach Deutschland wollen. Behörden, Helfer, Polizisten, Kommunen sind überlastet. «Wir schaffen das», hatte Merkel gesagt. Viele haben Zweifel daran.


Die Anreize für Hilfesuchende sollen nun möglichst so stark reduziert werden, dass viele gar nicht erst kommen. Und nun wurde auch noch genau die Regelung gekippt, mit der die Begeisterung in der Welt über Merkel bis hin zu U2-Frontsänger Bono ihren Lauf nahm. Das Dublin- Verfahren wird wieder angewendet. Das soll kein Kurswechsel sein?


Es stellen sich noch weitere Fragen: Warum wurde Merkel über die Änderung nicht informiert? Seit Monaten spricht sie darüber, dass das Dublin-Verfahren keinen Sinn mache und dringend reformiert werden müsse. Sie sieht die Überforderung vor allem des finanzschwachen Griechenlands mit der Aufnahme von Flüchtlingen, die in Massen zuerst dort ankommen. Sie fordert Solidarität der EU-Staaten, will aber auch deutsche Solidarität zeigen. Und sie lässt keinen Zweifel daran, wie unwürdig sie es findet, wenn erschöpfte und verzweifelte und von der Flucht gezeichnete Menschen hin- und hergeschickt werden.


Schafft Merkels lange so vertrauter Innenminister, vormals ihr Kanzleramtsminister, nun einfach Fakten? Und wenn, warum? Oder hat er die Brisanz für Merkel und die Koalition nicht erkannt? Die SPD ist auf der Palme, auch sie hat erst am Dienstag davon erfahren.


De Maizières Sprecher Johannes Dimroth begründet, Dublin sei im August für Syrer ausgesetzt worden, um «verfahrenstechnische Engpässe» beim BAMF zu überwinden. Nun müsse man zu einem geordneten Verfahren mit Registrierung zurückkehren. Die Grünen schimpfen, die Engpässe gebe es doch immer noch. Die Regierung sei «kopflos».


Zu einem geordneten Verfahren will auch Merkel wieder kommen. Denn der Unmut in CDU und CSU wird immer größer. Viele befürchten einen Sinkflug der Union in der Wählergunst vor den wichtigen Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im März. Andere haben große Bauchschmerzen damit, dass in Deutschland etliche Flüchtlinge sind, die noch gar nicht registriert wurden.


De Maizière hat nun aber schon zum wiederholten Mal Verwirrung ausgelöst. Ende vergangener Woche machte er mehr oder weniger en passant eine mehrere Tage zurückliegende Entscheidung bekannt, syrische Flüchtlinge wieder im Einzelfall prüfen zu lassen. Das bedeutet, dass ihnen der Familiennachzug verwehrt bleiben kann, weil sie nicht mehr pauschal als besonders gefährdet eingestuft werden.


Seinen Vorstoß zum Status syrischer Flüchtlinge stoppte das Kanzleramt erst einmal, weil das nicht Geschäftsgrundlage eines gerade geschnürten Asylpakets der schwarz-roten Parteichefs war. Dann aber gab Merkel wieder grünes Licht für die Prüfung der Idee durch die Innenministerkonferenz.


Persönlich äußerte sie sich dazu nicht. Dabei schreibt sich doch gerade die Union den Schutz der Familie auf die Fahne, und Verbände mahnen schon, dass die Integration der Flüchtlinge ohne Familiennachzug scheitern könnte. Und man weiß auch noch nicht, was Merkel von der Rückkehr zu den Dublin-Regeln hält.


Das Resultat: Ein Bild des Durcheinanders in Merkels Kabinett. Über «Kommunikationsprobleme in Teilen der Regierung» ärgert sich Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU). Und das soll was heißen. De Maizière soll nun zu wöchentlichen Informationen verdonnert werden, verkündet die SPD. Im Bundestag verteidigt de Maizière am Dienstag seine Linie. In der Unionsfraktion gab es Applaus. (DPA)