Stalin-Terror in «Tschewengur» - Castorf in Stuttgart bejubelt

«Tschewengur»: ein Szenenbild. Foto: Thomas Aurin/Schauspiel Stuttgart
«Tschewengur»: ein Szenenbild. Foto: Thomas Aurin/Schauspiel Stuttgart

Es ist eine Menge Holz, das Frank Castorf am Schauspiel Stuttgart auf die Bühne bringt. Wuchtig dreht sich der Koloss aus einer hölzernen Mühle, einer Bretterbude und einer gepanzerten sowjetischen Lokomotive mit der Aufschrift Josef Stalin vor dem Publikum. Es ist ein perfekter Spielplatz. Gut fünf Stunden lang können sich die zehn Akteure in dem Video-Theater-Spektakel austoben. Aber nicht alle Zuschauer bleiben bis weit nach Mitternacht.

Zur deutschen Erstaufführung des Stücks «Tschewengur» nach dem gleichnamigen Roman des in Deutschland kaum bekannten russischen Autors Andrej Platonow (1899-1951) ist das Schauspiel rappelvoll. Viele Fans des 64 Jahre alten Intendanten der Volksbühne Berlin aus ganz Deutschland sind gekommen. Für ihn endet der Abend mit heller Freude der verbliebenen Premierengäste. Jubel.


Castorf nimmt sich diesmal ein rund 60 Jahre zu Sowjetzeiten verbotenes Werk vor. Diktator Stalin selbst stempelte den Autor als «Swolotsch» ab - also als Drecksack. Er brandmarkte Platonow, der an der Utopie von einem kommunistischen Paradies zweifelte, als Verräter - ein literarisches Todesurteil. Nirgends werde die Lyrik so geschätzt wie in Russland - dafür könne ein Schriftsteller sogar erschossen werden. Es ist fast eine traurige Volksweisheit zu Sowjetzeiten. Nicht immer blieb es nur bei Zensur, viele Schriftsteller starben unter Stalins Diktatur vor ihrer Zeit.


Ob denn noch jemand hören wolle, was ein «alternder Avantgardist» der Theaterszene noch zu sagen habe, lässt Castorf selbstironisch fragen auf der Bühne. Es gibt Beifall, schrilles Lachen. Also ja, sie wollen hören - und vor allem sehen. Entstanden ist eine von Castorf mit viel Hingabe zubereitete Soljanka.


In diese russische Suppe passt alles rein. Auch Reste. Es gibt einen Schuss Wodka - nicht zu viel, eine kurze Alkoholismusdebatte. Eben nicht nur Russen saufen sich zu Tode. Die Sucht ist im Künstlermilieu überall verbreitet, heißt es. Es ist ein Abend, der doch vergleichsweise sparsam mit Klischees umgeht. Pelzmützen, Klunker bei den Frauen, ein Sowjetstern und eine Monsterkakerlake - das alles gibt es freilich. Brüllen auch. Ausflippen erst recht. Große Emotionen überall.


Und immer wieder lässt eindringliche Prosa so starke Bilder im Kopf entstehen - dass die kolossale Bühne des Serben Aleksandar Denić Mühe hat, da mitzuhalten. Platonows Thema ist die sowjetische Wirklichkeit nach der Machtübernahme durch die Bolschewiken, das vom Staatsterror gegen die Bürger geprägte Leben unter dem blutigen Diktator Stalin.


In «Tschewengur» dreht sich viel um kostenloses Arbeiten, um Ausbeutung, um Anarchie und - um Ungehorsam, der meist mit dem Tod endet. Es geht um den Sowjetmenschen, der bei vollem Bewusstsein leidet, um Hungersnot, den brutalen Geheimdienst, Knüppelei und um Folter, die «die Persönlichkeit bis zu den Wurzeln entblößt». Der Mensch stirbt schnell, aber die Maschine ist ewig.


Der fiktive Ort «Tschewengur», ein Mikrokosmos zwischenmenschlicher Schlachten, liegt in der jungen Sowjetunion. Hier prallt die kommunistische Ideologie auch auf den Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche: auf der Stalin-Lokomotive steckt ein Zwiebelturm in Militärgrün mit einem Kirchenkreuz. «Tschewengur» lässt nichts aus: die Träume nach einem Leben in der Metropole Moskau, die Faszination an Technik, Platonows Streben ins Weltall.


In der Sowjetunion erschien sein Monumentalwerk, das Kritiker vergleichen mit Literatur von Franz Kafka und James Joyce, erst gegen Ende der Sowjetunion - unter dem reformorientierten Kremlchef Michail Gorbatschow. Da war das Regime schon am Zerfallen, wie auch das Bühnenbild mit seiner Erinnerung an die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 zeigt. In seinem Roman hatte Platonow das Ende des Systems schon in seinen Anfangsjahren vorhergesagt. (DPA)