Merkel und Seehofer am Scheideweg

Bundeskanzlerin Merkel (CDU) sagt "wir schaffen das", Bayerns Ministerpräsident Seehofer (CSU) meint "wir sind am Limit". Foto: David Ebener
Bundeskanzlerin Merkel (CDU) sagt "wir schaffen das", Bayerns Ministerpräsident Seehofer (CSU) meint "wir sind am Limit". Foto: David Ebener

Horst Seehofer verlangt von Angela Merkel jetzt ein «Signal». Ein Zeichen, dass die Kapazitäten zur Flüchtlingsaufnahme erschöpft seien. Noch nie hat der CSU-Chef versucht, die Kanzlerin so hartnäckig in die Enge zu treiben wie seit deren Entscheidung zur Nothilfe am 5. September, als sie Flüchtlinge aus Ungarn unregistriert nach Deutschland reisen ließ. Am Samstagabend fordert, warnt und mahnt der bayerische Ministerpräsident wieder, via Bayerisches Fernsehen. 

Merkel sendet am Tag der Deutschen Einheit aber erneut diese Botschaft zur Krisenbewältigung: «Das müssen wir gemeinsam schaffen, Deutschland, Europa und die Welt, jeder seine Aufgabe dabei erfüllen.» Ihr Mantra. Vielleicht ihr Schicksal.


Merkel wirkt entschlossen, nicht von ihrem humanitären Kurs abzuweichen, dass Deutschland Bürgerkriegsflüchtlingen und politisch Verfolgen helfen muss. Sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge sollen kein Asyl bekommen, auch das stellt sie stets klar. Gerhard Schröders (SPD) Agenda 2010 ist mit Merkels Flüchtlingspolitik wohl in diesem Punkt zu vergleichen: Bei den ganz großen Themen müssen Bundeskanzler von der Richtigkeit ihres Handelns so überzeugt sein, dass sie das Risiko eingehen, sich von ihrer Partei zu entfernen und ihr Amt zu verlieren. Schröder tat es. Merkel tut es auch, heißt es in der CDU.


Man stelle sich vor, Merkel würde den Bürger nun sagen, dass Deutschland es doch nicht schafft. Dass sie sich in ihrem Land getäuscht hat, als sie im August mutig und entschlossen verkündete: «Wir schaffen das.» Dass die überraschende und weltweit gefeierte Willkommenskultur der Deutschen nicht ausreicht. Dass das Grundrecht auf Asylrecht zur Disposition steht und Grenzkontrollen dauerhaft verschärft werden. Die Kanzlerin wäre gescheitert. Sie müsste zurücktreten, sagen selbst Unionsanhänger. Will Seehofer das?


In CDU-Kreisen heißt es, Seehofer sei mit Maut und Betreuungsgeld rechtlich auf die Nase gefallen und wolle sich mit einem Thema wieder profilieren, mit dem die CSU bei vielen, oft verunsicherten Menschen punkten kann: Migration, Asyl, Integration. Dass er eine ohnehin schon angespannte Stimmung noch anheize, nehme er in Kauf.


Der CSU-Spitze ist aber bewusst, dass ein Konflikt mit Merkel die Wahlchancen der Union und damit eben auch der CSU schmälert. Ein Stabwechsel wohl erst recht. Meinungsforscher haben immer wieder betont, die Union habe ihre guten Umfragewerte Merkel zu verdanken, die die CDU weit in der Mitte der Gesellschaft gerückt hat.


Bislang mochte sich in CDU und CSU kaum jemand vorstellen, dass sie 2017 nicht mehr antritt. Seehofer persönlich erhöhte den Druck auf Merkel, in dem er ihr noch im Sommerpause die Fähigkeit zuschrieb, für die Union bei der Bundestagswahl 2017 die absolute Mehrheit holen zu können. Viele Unionsanhänger sind sich sicher: Nach Merkel landen CDU und CSU erst einmal in der Opposition. Das dürfte Seehofer nicht wollen. Leicht erregbare Geister in der CSU-Landtagsfraktion reden schon vom Ausstieg aus der Koalition. Das will Seehofer sicher nicht.


Im März stehen Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt an. Sie gelten als Vorboten für die Bundestagswahl. Die Flüchtlingspolitik dürfte eines der entscheidenden Wahlkampfthemen werden. Im jüngsten ARD-«Deutschlandtrend» verliert Merkel erstmals seit Jahren an Zustimmung in der Bevölkerung, Seehofer legt stark zu.


Er sagt, Merkels Entscheidung am 5. September sei ein Fehler gewesen. Als Beleg sieht die CSU die - auch laut Umfragen - wachsenden Sorgen der Bürger und dem einsetzenden Anstieg der Flüchtlingszahlen. Die Koordinierungsstelle des Bundes in München zählte allein im September 273 812 neu angekommene Flüchtlinge - mehr als im gesamten Vorjahr.


In der Union halten sie dagegen, dass Forderungen nach einem Aufnahmestopp ebenso einen Sog auslöse. Denn viele Flüchtlinge machten sich sofort auf, um noch nach Deutschland zu kommen, bevor die Grenzen dicht sind. Grenzkontrollen beruhigten die eigenen Bürger, Flüchtlinge hielten sie nicht ab.


Und das geht ja auch gar nicht: die Grenzen dicht machen. Deutschland wird keine Mauer bauen, die grüne Grenze bleibt durchlässig. Eine - im Grundgesetz nicht vorgesehene, von CSU-Politikern aber geforderte - Obergrenze für Asylbewerber liefe demnach Gefahr, überschritten zu werden. Eine Obergrenze lehnt Merkel ausdrücklich ab. So überraschend emotional die bisher anscheinend so kühle Physikerin in der Flüchtlingsfrage wirkt, unsachlich wird sie deshalb nicht.


Immer wieder ist in München aber die Klage zu hören, dem Bund sei die Dringlichkeit der Lage nicht bewusst. So ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in hoffnungslosem Rückstand bei der Bearbeitung der Asylverfahren. Mittlerweile wartet ein Stapel von etwa 300 000 Anträgen auf Erledigung.


In Bayern brodelt es. Gefolgschaft für die Frau, die in der Welt jetzt als moralische Lichtgestalt dastehe, die Hauptlast aber den Ländern - insbesondere Bayern überlasse - sei keine Lösung, heißt es bei der CSU. Denn das würde interne Konflikte auslösen. Zu beobachten sind auch Reibereien zwischen Seehofer und seinem ehrgeizigen Finanzminister Markus Söder. Dessen Vorstöße wie nach einem Eingriff in das Grundrecht auf Asyl gehen dann auch dem Parteichef zu weit.


Seehofer sagt aber: «Mehr geht nicht mehr.» Das finden im übrigen auch CDU-Mitglieder. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer warnt in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung»: «Schon in den nächsten Tagen kann eine Situation entstehen, in der Bayern die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht.» Was heißt das? Wird Bayern im Laufe der Woche «dicht machen» und Flüchtlinge in andere Bundesländer schicken? Trennen sich hier die Wege von Merkel und Seehofer?


Der Direktor des Osloer Friedensforschungsinstituts Prio, Kristian Berg Harpviken, hat Merkel auf Platz eins seiner persönlichen Liste der aussichtsreichsten Kandidaten für den Friedensnobelpreis gesetzt. Er sagt: «Sie hat in einer kritischen Zeit moralische Führungsqualitäten gezeigt.» In der Ukraine-Krise und in der Flüchtlingsfrage habe sie Verantwortung übernommen, was andere vermieden hätten. Der Friedensnobelpreis für Merkel - er würde Union und Bürger vermutlich zusammenschweißen. (DPA)