Schillerstadt Marbach: 60 Jahre Literaturarchiv

Die erste Seite des Originalmanuskripts des Romans «Der Process» (auch «Der Prozess») von Franz Kafka. Foto: Marijan Murat
Die erste Seite des Originalmanuskripts des Romans «Der Process» (auch «Der Prozess») von Franz Kafka. Foto: Marijan Murat

 Das Gedächtnis der deutschen Literatur wird 60 Jahre alt. Zeit für einen Blick auf die teuersten, ältesten und begehrtesten Stücke der gigantischen Sammlung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Jubiläum in der Schillerstadt Marbach: Das Deutsche Literaturarchiv (DLA) in der Geburtsstadt eines der populärsten deutschen Dichters wird 60. Am 12. Juli 1955 beschloss die Deutsche Schillergesellschaft, das Nationalmuseum auf einem Felsen über Marbach am Neckar (Kreis Ludwigsburg) 

um ein Literaturarchiv für die Nach- und Vorlässe bedeutender Schriftsteller und Gelehrter zu erweitern. Gut 1400 solcher Sammlungen sind es inzwischen. Archivleiter Ulrich von Bülow kennt die Superlative: DAS TEUERSTE Einzelstück ist vermutlich Franz Kafkas unvollendetes Romanmanuskript «Der Process». Das DLA hat die Handschrift 1988 auf einer Londoner Auktion für umgerechnet 1,75 Millionen Euro ersteigert. Seitdem wurde das Manuskript mehrfach neu ediert und bereits zweimal in Marbacher Ausstellungen gezeigt.


Einzelne Seiten sind selbstverständlich auch in der Dauerausstellung zu sehen. DAS ÄLTESTE Schriftstück ist ein Brief, den Martin Luther am 9. September 1529 an den Grafen Albrecht von Mansfeld schrieb. 1968 kam er als Teil einer wertvollen Autographensammlung nach Marbach. Eigentlich beginnt das Sammelgebiet des DLA erst mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. DIE GRÖSSTE Erwerbung bisher ist das Siegfried-Unseld-Archiv, das 2010 hinzukam. Die 10 000 Archivkästen enthalten sämtliche Unterlagen der Verlage Suhrkamp und Insel: von Autorenkorrespondenzen und Lektoratsunterlagen bis hin zu den Abrechnungen.


DER SCHWIERIGSTE Kauf ist immer der Kauf von Schiller-Manuskripten. «Das liegt daran, dass seine Nachkommen viele Handschriften in kleine Schnipsel zerschnitten haben, um möglichst viele Verehrer damit zu erfreuen», sagte von Bülow. Zwar sei vieles «Gott sei Dank» sorgsam aufbewahrt und tauche im Autographen-Handel auf. Doch was man kaufen kann, «ist immer nur ein kleiner Teil des Werks, manchmal nur einige Worte». Es braucht viel Geduld, solche Puzzle zu vervollständigen. DAS JÜNGSTE Stück stammt laut von Bülow vom nach wie vor munter schreibenden Günter Kunert (86). Bereits vor Jahren habe er dem DLA seinen Vorlass übergeben.


Quasi als Nachträge schicke er laufend neue Gedichte samt ihren Vorfassungen mit der Post nach Marbach. «Manche Handschriften sind bei ihrer Ankunft im Archiv erst wenige Tage alt, die Tinte ist sozusagen noch feucht.» DIE RÄTSELHAFTESTE Notiz hat Martin Heidegger (1889-1976) verfasst. «Seine späten Notizen sind auch für Kenner schwer zu interpretieren», sagte der Fachmann. «Er füllte Tausende kleine Zettel mit Stichworten, Begriffsreihen, runenartigen Symbolen, Diagrammen und Pfeilen, die gelegentlich an Mind-Maps erinnern. Offenbar bewegte sich seine Zwiesprache mit dem Sein an den Grenzen des sprachlich noch Vermittelbaren.»


DAS SKURRILSTE Fundstück gehört zum Nachlass von Nicolai Hartmann (1882-1950): ein eigenartiges Fernrohr, genauer gesagt ein Refraktor, den der Philosophen in seinen Marburger Jahren eigenhändig aus einem verrußten Ofenrohr gebaut hat. Das immer noch funktionsfähige Instrument passe zu Hartmanns «Neue Ontologie». DAS NACHGEFRAGTESTE Objekt sind laut von Bülow Peter Handkes 66 Notizbücher aus den Jahren 1975 bis 1990, die insgesamt mehr als 10 000 Seiten umfassen. Als sie nach Marbach gingen, sei er damit einverstanden gewesen, dass sie von der Forschung ohne weitere Rücksprache eingesehen werden dürfen. «Inzwischen hat es sich herumgesprochen, um was für einen Schatz, um was für eine schier unerschöpfliche Quelle es sich handelt», sagte von Bülow. Im Marbacher Lesesaal bekomme man daher nicht mehr die fragilen Originale, sondern hochaufgelöste Scans zu sehen. (dpa)


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