Mehr HIV-Diagnosen in Europa als je zuvor

Die rote Schleife gilt als Symbol der Solidarität mit HIV-Positiven und Aids-Kranken. In Europa hat die Zahl der neuen HIV-Diagnosen im vergangenen Jahr ein Rekordhoch erreicht. Foto: Arne Dedert/Illustration
Die rote Schleife gilt als Symbol der Solidarität mit HIV-Positiven und Aids-Kranken. In Europa hat die Zahl der neuen HIV-Diagnosen im vergangenen Jahr ein Rekordhoch erreicht. Foto: Arne Dedert/Illustration

In Europa sind 2014 so viele neue HIV-Infektionen registriert worden wie nie zuvor. Vor allem im Osten schossen die Zahlen in die Höhe. «Die Epidemie ist nicht unter Kontrolle», warnte Irina Eramova vom Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Europäische Region. Sie umfasst 53 Länder, darunter auch Russland und Kasachstan. Nach einem neuen Bericht, den die WHO gemeinsam mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) veröffentlichte, sind im vergangenem Jahr 142 197 neue Ansteckungen gemeldet worden.

2013 waren es 136 235 Erstdiagnosen.


Zu wenig Vorbeugung und Therapie - in Osteuropa auch aufgrund mangelnder Ressourcen - sind laut Experten die Hauptgründe für den Anstieg. Noch ein Problem, das auch im Westen des Kontinents verbreitet ist: «Etwa die Hälfte der Infektionen werden nicht erkannt, wenn die Menschen sich angesteckt haben, sondern manchmal erst Jahre später», sagte Eramova der Deutschen Presse-Agentur. Weil es dauert, bis sich die Symptome zeigen, können HIV-Infizierte oft lange normal leben. Dadurch kann sich die Epidemie weiter ausbreiten.


Allein Russland meldete 85 252 neue Infektionen. In Bulgarien, Ungarn, Tschechien und der Slowakei hätten sich die pro Jahr diagnostizierten Infektionen seit 2005 verdoppelt, hieß es.


Früher sei das Virus in den osteuropäischen Ländern vor allem durch das gemeinsame Benutzen von verunreinigtem Drogenbesteck übertragen worden, sagte Eramova. «Jetzt geht es von den Menschen, die Drogen spritzen, auf ihre Sexualpartner über, und deshalb sehen wir auch einen Anstieg bei den heterosexuellen Übertragungen.» Wer eine Infektion befürchtet, geht in den osteuropäischen Staaten aber deshalb noch lange nicht zum Arzt.


«Untersuchungen zeigen, dass ein sehr hoher Anteil von Männern, der Sex mit anderen Männern hat und in diesem Teil der Welt lebt, diese Tatsache noch nicht einmal mit seinem Arzt teilt», sagte Andrew Amato-Gauci, Leiter des ECDC-Programms für HIV/AIDS der Deutschen Presse-Agentur. «Das bedeutet natürlich, dass der Arzt sich die Risiken nicht vernünftig ansehen und die richtigen Tests und Ratschläge anbieten kann», erklärte Amato-Gauci.


«Drogenkonsum und Sex mit Männern werden dort tabuisiert. Das macht eine wirkungsvolle Prävention so gut wie unmöglich», sagte Holger Wicht von der Deutschen Aids-Hilfe (Berlin). Die Zahl der HIV-infizierten Schwulen werde in Osteuropa zum Teil unterschätzt. «In Russland darf man ja noch nicht einmal mehr positiv über Homosexualität sprechen», sagte der Presseprecher vor dem Welt-Aids-Tag am 1. Dezember. Amato-Gauci forderte: «Man muss das Gesundheitswesen «nutzerfreundlicher» machen, so dass es die besonderen Probleme versteht, denen diese Menschen gegenüberstehen.»


In manchen Ländern sei nicht genug politisches Engagement da, sagte WHO-Expertin Eramova. «In anderen Ländern ist das Problem, wie Gesundheits- und Präventionsdienste organisiert sind. Oft erreichen sie diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, nicht. Stigma trägt auch dazu bei.» In Ländern wie Russland sei das Problem nicht Armut. Vielmehr spiele es etwa eine Rolle, wie Ressourcen genutzt würden.


In der Europäischen Union wird das Virus nach ECDC-Angaben überwiegend bei Geschlechtskontakten unter Männern weitergegeben. «HIV-Diagnosen bei Männern, die Sex mit Männern haben, sind in einem alarmierenden Tempo gestiegen», hieß es in dem Bericht. Von 30 Prozent der Infektionen 2005 auf 42 Prozent im Jahr 2014.


In Prävention, die sich speziell an diese Menschen richte, werde nicht genug investiert, klagte Amato-Gauci. «Wir brauchen mehr Gesundheitsförderung, um die Menschen daran zu erinnern, dass es HIV noch gibt», erklärte er. Vor allem bei den Jüngeren scheine das in Vergessenheit geraten zu sein. «Sehen Sie heute noch große Kondom-Werbekampagnen? Sie scheinen vergessen zu sein, obwohl Kondome weiter eine Rolle spielen.»


In Deutschland wurde das Aids-Virus 2014 dem ECDC-Bericht zufolge bei 3525 Menschen diagnostiziert. Das sind sieben Prozent mehr als im Vorjahr. Nach Angaben der Deutschen Aids-Hilfe liegt die Zahl der Neu-Infektionen hierzulande stabil bei rund 3200 pro Jahr. Wicht: «Die schlechten Nachrichten gelten also für Deutschland nicht.» Ein Grund für den Unterschied der Zahlen zwischen Neuinfektionen und Diagnosen sind nach RKI-Angaben die Ansteckungen im Ausland.


In Österreich, Estland, Frankreich, Niederlande und Großbritannien sind laut ECDC-Bericht die Diagnosen in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 25 Prozent zurückgegangen.


Obwohl die Zahl der infizierten Migranten rückläufig ist, warnt die WHO, diese Gruppe zu vernachlässigen. «Wir bei der WHO fordern alle Länder in Europa auf, HIV-Tests, Präventions- und Behandlungsangebote für alle Flüchtlinge und Migranten bereitzustellen, unabhängig von ihrem rechtlichen Status. Das ist auch der sicherste Weg, die eigene Bevölkerung vor einer HIV-Infektion zu schützen.»

Nach einem Bericht der Vereinten Nationen haben sich 2014 weltweit 2 Millionen Menschen mit dem Aids-Virus infiziert. Diese Zahl geht jedoch stark zurück: Die Neuansteckungen sind seit 2000 um 35 Prozent gesunken. 36,9 Millionen Menschen tragen das Virus in sich. 1,2 Millionen Menschen starben im vergangenen Jahr an Krankheiten im Zusammenhang mit Aids. (DPA)